Versuch der Zerlegung einer historischen Örtlichkeit in Zeitschichten anhand der Place de la Concorde – Prozess und Gefahr des Filterns und der Grenzziehung

Je länger ich mich mit Paris beschäftige, desto unendlicher aber zugleich auch entdeckungswürdiger empfinde ich diesen städtischen Organismus kosmischen Ausmaßes. Ich bemerke mit zunehmendem Bilder- und Textkonsum immer mehr, wie mich die Aussicht auf Erkenntnis lockt. Zudem erscheint es mir – auch im Zuge der Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Quartier du Carrousel im Rahmen der Exkursion – klarer, als jemals zuvor im Verlauf meines Studiums, wie wichtig und unerlässlich es ist, einen womöglich bereits transformierten oder schon nicht mehr existierenden Raum in seine kleinsten Teile zu zerlegen, um überhaupt die Basis für das Verstehen der Menschen vergangener Epochen, sowie ihrer Gedanken, Gefühle oder beispielsweise Handlungen, zu legen.
Dabei erkennt man die essentielle Bedeutung alter Stiche, Bilder oder eben Fotos, die zur Anregung der Fantasie beziehungsweise des Vorstellungsvermögens äußerst dienlich sind. Nehmen wir zum Beispiel Sennetts These des leeren Volumens. Er präsentiert dieses Prinzip des toten Raumes anhand der Hinrichtung Louis Capets auf der Place de la Révolution. Nun, wenn man sich die Place de la Concorde heute ansieht, so fällt es zunächst schwer, die der Aufklärung entstammende Idee der freien Entfaltung des Individuums innerhalb der Vernunft, die durch jene Place architektonisch zur Expression gebracht werden sollte, nachzuempfinden. Geht man davon aus, dass Sennett Recht hat und das Gedankengut Boullées tatsächlich in den höchsten Kreisen der Revolutionäre Fuß fasste, so offerieren sich dem heutigen Betrachter zwei grundlegende Wege, um diese Vorstellung des 18.Jahrhunderts nachempfinden zu können: Entweder hatte der Platz schon damals ähnliche Eigenschaften wie sein moderner Nachkomme – was notgedrungener Maßen bedeuten würde, dass die Menschen der Revolution tatsächlich eine vollständig andere Gesinnung hatten; oder die Place de la Révolution hatte wirklich ein gänzlich anderes Gesicht.
Vermutlich muss man hier dem juste milieu folgen und eben beide Möglichkeiten in Betracht ziehen. Jedoch prägt nicht nur der Mensch den Raum, sondern der Raum inspiriert auch den Menschen. Insofern ist der Wissbegierige der heutigen Zeit, also in diesem Falle ich, darauf angewiesen, das „Volumen“ ebenso wie seine lebendigen Bewohner zu verstehen. Gerade hier gelangt man zu dem Punkt, an dem das Bildmaterial unerlässlich wird, da die heutige Concorde meiner Meinung nach tatsächlich wenig mit jener der Revolutionsjahre zu tun hat. Wie nützlich erscheint da die Option, alte Stiche bewundern zu können! Der heutige Platz übt auf den Besucher einen gestressten und nahezu abweisenden Eindruck aus. Es ist ein Ort, der trotz seiner immensen Größe eher beengend wirkt. Er mag zwar zunächst eine gewisse Offenheit verkörpern und das Gefühl von Freiheit simulieren, doch erscheint er bei näherem Hinsehen nahezu unwirklich und gekünstelt. Wie kommt diese Empfindung aber zustande und warum weckte die Place de Révolution derart andere Gefühle? Dies hängt einerseits damit zusammen das, so banal dies auch klingen mag, heute Autos um das Zentrum kurven, die neben dem Fakt, dass sie der Lokalität eine ungeheure Unruhe aufzwingen auch noch ein anderes Merkmal mit sich bringen: Sie vernichten die vorgetäuschte Wirkung der Unendlichkeit. Aufgrund der um Etliches höheren Geschwindigkeiten geht jener Effekt verloren, der dem einfachen Fußgänger die scheinbare Unerreichbarkeit eines weit entfernten Ortes vor Augen führt. Gleiches gilt für die Champs Elysées: Diese Achse der schieren Endlosigkeit schrumpft – wenn auch nicht in der Realität, so doch in der Welt der Imagination – durch jene Automobile, die den Weg in Richtung Arc de Triomphe, relativ zum marschierenden Körper gesehen, in Windeseile zurücklegen. Auch der napoleonische Triumphbogen an sich, der den Chaillot- Hügel geradezu überakzentuiert, setzt der Ende des 18.Jahrhunderts beabsichtigten Simulation der Grenzenlosigkeit eine klar definierte Grenze entgegen.
Dieser Place de la Concorde steht die Place Louis XV. von 1789 oder eben die spätere Place de la Révolution gegenüber: Freier Blick entlang der Gefilde der Seeligen bis hin zum Rond Point von Le Nôtres Anlage, ein offener Zugang in Richtung des grünen Jardin des Tuileries, der nicht von einem gänzlich unpassenden Riesenrad verstellt wird (zumindest stand ein solches noch im September des vorigen Jahres wie ein Wächter vor dem Eingang zur Parkanlage und vermittelte den Eindruck, dass man dahinter eher auf einen Freizeitpark, als auf eine historische Stätte treffen würde) und schließlich die Pont de la Concorde, die ab 1790 die natürliche Südwestgrenze – ergo die Seine - sprengte. Die einzigen Begrenzungen, die der Platz nach der Niederreißung der Begrünung, die noch auf das Ancien Régime zurückging, hatte, waren die beiden um 1775 fertig gestellten repräsentativen Kolonnadenbauten (das heutige Hôtel Crillon sowie das Hôtel de la Marine) am Ausgang der Rue Royale.
Was für ein Gefühl muss es gewesen sein, über le Nôtres geschwungene Rampen am Ausgang der Tuilerien auf diesen toten und in fast alle Richtungen offenen Platz zu treten, der noch nicht von Automobilen übersäumt war. Dem Bürger von 1790 wurde zudem der vermutlich wichtigste Struktur gebende Anhaltspunkt genommen – der Obelisk. Durch das Manko eines derart klar definierten Mittelpunktes musste die Impression der Grenzenlosigkeit noch verstärkt werden.
Der Mensch der die Jahre der Revolution miterlebte, hatte es also tatsächlich mit einer völlig anderen Örtlichkeit zu tun. Mit einem Platz, der kraft der Überbetonung seiner unlimitierten Größe durchaus ein immenses Gefühl der Verlorenheit hervorrufen hätte können; oder eben jenes der grenzenlosen Freiheit. Eigenschaften, die er, wenn überhaupt noch, dann nur mehr in stark beschränkter Weise besitzt.

Ich habe hier, angeregt durch Sennetts Kapitel „Der freigesetzte Körper“ in seinem Werk „Fleisch und Stein“, versucht, eine heute existierende Örtlichkeit der französischen Hauptstadt entlang einer Zeitschicht ganz gezielt zu zerschneiden, um diese anschließend in Relation zur Gegenwart zu analysieren. Gänzlich habe ich dabei auf die Kontextualisierung des „Steines“ mit dem „Fleisch“ verzichtet. Sie würde vermutlich den Rahmen dieses Eintrages sprengen, da bereits die Zerlegung des Platzes nur einen ersten und peinlich unvollständigen Versuch darstellt. Aber Paris scheint nun mal die Fähigkeit zu besitzen, dem Wissbegierigen ein ebenso verblüffendes wie unendliches Universum zu öffnen.
Das gleiche Procedere könnte man auf jeden anderen beliebigen Ort der Stadt anwenden. Schließlich hatte ich zuerst auch das Quartier du Carrousel (das mir im Übrigen bei zunehmender Beschäftigung mit der Materie im Rahmen der Exkursion immer sympathischer erscheint) ins Auge gefasst. Jedoch wäre hierbei ein noch höheres Maß an Fantasie gefragt, da dieses de facto nicht mehr existiert. Daraus resultiert die Erkenntnis, dass jeder komplexe Ort seine Eigenheit besitzt, die ihn maßgebend mitbestimmt und von anderen abgrenzt.
Folglich müsste man bei einer Betrachtung der Stadt Paris als einem gesamtsemiotischen Konstruktes sehr klare Grenzen ziehen. Eine schwere, aber machbare Aufgabe. Ich denke, dass sich auch hier die Arbeit mit Zeitschichten als möglich herausstellen würde, jedoch müsste man die Schnitte anders anlegen und ganz genaue Grenzen ziehen. Dabei erscheint eine Frage als vordergründig: Ist es dienlicher einen urbanen Kosmos diesen Ausmaßes als eine Einheit zu begreifen, oder muss man Trennungen des Gesamtbildes vollziehen? Wie müssten diese Grenzen aussehen?
Wenn man Benevolos und Albrechts Perspektive übernimmt und den dominanten Einfluss der Grenzen auf die menschlichen Verhaltensweisen im Laufe der Geschichte näher observiert, so ist es unumgänglich die Grenzen so zu ziehen, wie sie auch in der einen oder anderen Epoche von den Zeitgenossen verstanden und wahrgenommen wurden, da man sonst Gefahr läuft, den zu untersuchenden Gegenstand, oder eben das semiotische Gebilde, in zu hohem Maße mit dem Filter der Gegenwart zu betrachten, was wiederum die Resultate verfälschen würde.

Wie zu erahnen, habe ich mich also noch nicht eindeutig für ein Thema entscheiden können, wobei mir die historische Entwicklung und Bedeutung, sowie die zeitgenössische Auffassung der Königsachse immer vertrauter und sympathischer wird.
Dem entgegen steht vor allem die Observation von Paris unter dem Verständnis eines gesamtsemiotischen Konstruktes. Leider ist der „Mythos von Paris“ von K.Stierle aber bisher unauffindbar gewesen. Die UB meint, er wäre an seiner Regalposition nicht auffindbar und hat meine Vorbestellung bereits dreimal gelöscht.
In diesem Zusammenhang wäre es vielleicht auch interessant, Paris, oder einzelne Quartiers aus der Sicht diverser Personen aus verschiedenen Epochen näher unter die Lupe zu nehmen: Ob dies nun, naheliegend, Hazan ist, oder ob es sich dabei etwa um den Guide Joanne von 1870 (gibt es davon ein Faksimile oder sonstige nützliche Literatur?) handelt, um die Werke großer französischer Literaten oder beispielsweise um die Fotografien Henri Cartier- Bressons (ad infinitum). Bestimmt könnte man auch weiter in die Vergangenheit zurückgehen. Klingt auf jeden Fall alles sehr spannend!
Schmale - 5. Mai, 15:06

Schmale

Der erste Teil Ihres Eintrages setzt sich sehr sehr spannend mit der zeitabhängigen unterschiedlichen Wahrnehmung von Orten in der Stadt auseinander. Wäre das nicht ein Thema - und sei es die Place de la Concorde? Kann man eine große Stadt wie Paris überhaupt als Ganzes erfassen und verstehen? Und was wäre das "ganze Paris"? Das scheint mir ähnlich schwierig, wie das "ganze Europa"! Parisberichte von Besuchern der Stadt gibt es natürlich serh viele; das wäre eine wichtige Quelle, wenn es um die Wahrnehmungen in unterschiedlichen Zeiten geht.

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Schmale
Das ist eine fulminante "Schlussfanfare", wirklich...
Schmale - 16. Sep, 16:17
Verfall des königlichen...
In diesem Blogeintrag will ich mich der näheren Analyse...
Rafael Prehsler - 28. Aug, 14:51
Schmale
Nachträge: Das Kapitel zu Versailles in Pierre Nora,...
Schmale - 9. Jul, 14:21
Schmale
Der Arc de Triomphe, sozusagen stellvertretend für...
Schmale - 8. Jul, 21:59
Machtverschiebungen zwischen...
Die französische Revolution brachte wie kein anderes...
Rafael Prehsler - 8. Jul, 16:14

Links

Suche

 

Status

Online seit 5898 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 16. Sep, 16:17

Credits


Profil
Abmelden
Weblog abonnieren