Sonntag, 8. Juni 2008

Wahrnehmungsperspektiven der Champs-Élysées – Die Problematik der gerechten Interpretation

Mein historischer Spaziergang durch Paris führte mich in den letzten Wochen vorwiegend auf die Champs Élysées – eine signifikante sich axial erstreckende Örtlichkeit, deren politische beziehungsweise soziokulturell- semiotische Bedeutung oder eben Symbolik im Laufe der Geschichte dieser Weltstadt gleich mehrmals einer deutlichen Transformation unterlag.
In der ursprünglich auf Grund der Versumpfung höchst unwegsamen Gegend, legte Maria de Medici fernab der heutigen Prachtstraße in Anlehnung an die glanzvollen corsi der italienischen Städte den Cours- la- Reine an. Dieser verlief – im Prinzip genau wie die Grande Galerie des Louvre - entlang der Seine, was wiederum ein weiteres Exempel für die städtebauliche Orientierung entlang des Flusses darstellt.
Weit entfernt vom heutigen Auftreten der Champs Élysées, hatte jener Cours doch ein in gewisser Hinsicht ähnliches Merkmal: Rasch wurde die Achse Marias zu einer Art Promenade der Reichen. Es wurde scheinbar zur Mode, sich im öffentlichen Raum zu präsentieren. Das 17.Jahrhundert wird von der barocken Idealvorstellung des Daseins geprägt. Das Leben wird zum Schauspiel, die (vorwiegend städtischen) Lokalitäten zur großen Bühne des Seins. Die vorhergehenden Jahrhunderte brachten zudem via Renaissance und Humanismus einen wesentlich offeneren Umgang mit dem menschlichen Körper mit sich, was die Zurschaustellung des – selbstverständlich reichen – Ichs zur Folge hatte. Wenngleich manche Straßen oder gar ganze Viertel, wie etwa diverse rues zwischen dem Louvre und dem Place du Carrousel, noch eher den Charakter einer vergessenen Welt innerhalb dieser barocken Welt des Erblühens hatten, so wurde das Leben und somit auch der Luxus der Oberschicht nach und nach doch öffentlich. Woanders als in Paris, dass schon damals vor allem aber im Laufe der nächsten Jahrzehnte und schließlich Jahrhunderte mit schnurrgeraden Prachtachsen gesäumt werden sollte, hätte man besser promenieren können? Die gerade Straße hatte und hat nach wie vor den Vorteil eines sehr hohen Sichtbarkeitspotentials und ermöglicht zudem schon von Weitem die Observation anderer Flaneure. Zudem darf nicht vergessen werden, dass die repräsentative Place de la Concorde, auf der später die üppigen Kutschen der Wohlhabenden kursieren sollten, damals noch nicht bestand.
Inwieweit dieses offensichtlich frische und im Aufschwung stehende Selbstbewusstsein, diese neue Gesinnung der reichen Pariser, die die Präsentation des Luxus vor den Augen sämtlicher Einwohner der Stadt zum Resultat hatte, Auswirkungen auf die Gedanken der Aufklärer beziehungsweise auf die Gewaltausbrüche während oder bereits vor der Grande Révolution hatten, sei dahingestellt. Diesbezüglich vertrete ich eher die Auffassung, dass die offene Veranschaulichung der ungleichen Verteilung des Wohlstands eher das revolutionäre Denken beeinflusst, als die revolutionäre Praxis. Zudem muss hinzugefügt werden, dass die Präsenz des Königs, der ja die bewusste Distanz zum Pariser Volk dem Residieren im Kern der hungrigen Meute vorzog, eher bescheiden war – ein Aspekt, der jedoch die Verbreitung ausufernder Gerüchte erleichterte, die das Gedankengut der breiten Masse fernab aufklärerischer Diskurse beeinflusste. Insofern bedarf es des Elends der Masse, um den Luxus und Jene, die davon profitieren, bereits als den verantwortlichen Sündenbock und nicht nur mehr als eine Begleiterscheinung der gesellschaftlichen Ordnung zu begreifen.
Erst um 1670, als Le Nôtre die Verlängerung der Achse nach (Nord-) Westen in Angriff nahm, erhielten die „Gefilde der Seeligen“ eine deutlich königliche Prägung. Nicht einmal bis zum Hügel von Chaillot reichend, war diese Gerade als Verbindung zwischen dem Palais du Louvre und dem Château de Versailles gedacht – ein, nicht zuletzt auf Grund der bestehenden Finanzengpässe, recht waghalsiges Projekt. So konnte diese Straße von den Zeitgenossen höchstens als ein Symbol gedeutet und verstanden werden, denn tatsächlich war die Pracht der Achse schon nach wenigen Gehminuten zu Ende. Hier kommt also reine Semiotik ins Spiel: Der Grand Cours Le Nôtres als der Sieg des Menschen (sprich des einen Menschen, nämlich des Königs) über die Sauvagerie de la nature oder eben als die Simulierung einer scheinbar bescheidenen Entfernung zwischen Versailles und Paris, die die Nähe des Königs zum Volk zum Ausdruck bringen sollte. Zugleich kann dieser erste Vorgänger der heutigen Champs Èlysées aber auch als ein deutliches Zeichen der Abstoßung seitens der Herrschenden verstanden werden, denn obwohl er im Vergleich zu den heutigen Ausmaßen mancher Pariser Stadtschneisen eher bescheiden wirkt, so musste er doch auf die Zeitgenossen einen recht mächtigen Eindruck gemacht haben, deren Paris noch ein wesentlich klein- strukturierteres Antlitz besaß.
Darüber hinaus hinterließ die Achse gerade auf Grund des Mankos an jeglichen Hindernissen – schließlich fand man dort weder Häuser oder Autos, noch den Arc de Triomphe, welcher damals wahrscheinlich als noch unproportionaler und gegebenenfalls unpassender empfunden worden wäre, als zur Zeit seiner Errichtung – vermutlich eine sich an die Unendlichkeit nähernde Impression, was wiederum auf eine deutliche und durch städtebauliche Maßnahmen vom König eventuell intendierte Distanz, sei sie nun real oder symbolisch, zwischen dem Hof und den Bürgern hinweisen würde. Jedenfalls kann ich unter dieser semiotischen Expression, welche jener Prachtstraße zu Grunde liegt (und die auch in der Gegenwart nach wie vor, wenn auch mit verschobenen Bedeutungen, existiert) den 5.Oktober des Jahres 1789 kaum als ein Produkt des Zufalls betrachten. Fernab der historischen Bedeutung des Zuges der Pariser Marktweiber nach Versailles, der ja im Prinzip nach dem Bastillesturm aus der zunächst scheinbaren Revolte eine endgültige und unwiderrufliche Revolution machte, die schließlich alle Teile der Bevölkerung – nun auch eindeutig die Frauen inkludierend – erfassen sollte, hat dieser Marsch der Masse auch eine höchst symbolische Signifikanz. In wie weit die Rolle der Frauen im Zuge dieses Ereignisses beziehungsweise im weiteren Verlauf der Revolution bereits damals anerkannt wurde, wäre interessant zu analysieren. Dass die Konjunktur des weiblichen Geschlechtes einerseits in intellektueller, andererseits aber auch in puncto politischer Emanzipation, für die prärevolutionäre und vom Chauvinismus beherrschte Gesellschaftsordnung eine Neuigkeit darstellte, innerhalb derer aus Sicht der Männer große Gefahren schlummerten, erscheint als offensichtlich. Auch die großen Aufklärer vermochten daran nichts zu ändern – die Terreur und in ebenso hohem Maße Napoléon beschnitten die zum Teil in der Anfangsphase der Bewegung erlangten Rechte in einem Maße, dass partiell gar die einseitige Statusvergabe während des Ancien Régime übertraf. Insofern muss der aktive politische Marsch der Frauen nach Versailles eine erstaunliche Novität dargestellt haben.
Zudem kam der Zug, so glaube ich, einer Entweihung gleich. Ab der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts hatte sich die einstige Ulmenallee, die höchstens während des alljährlichen Osterspaziergangs zum Bois de Boulogne das Potential besaß, die Massen anzuziehen, zu einer, wenn auch spärlich besiedelten, Wohngegend für Wohlhabende etabliert. Luxuriöse Häuser sprossen aus den Gärten des Faubourg St.Honoré. Ganz einer gängigen Theorie der Stadtentwicklung zur Folge, laut derer sich in die Gegenden der Reichen auch bald Jene unterer Bevölkerungsschichten verirren, folgten rasch die ersten (Straßen-) Händler und auch das Gewerbe der Prostitution dürfte sich in Blühte befunden haben. Trotz allem war das Gebiet rund um die Champs Élysées nicht mehr als eine Art Vorstadtwald, welcher sich, gekennzeichnet durch vereinzelte Bebauung, entlang einer zentralen Straße erstreckte.
Wenngleich die Gefilde der Seeligen Ende des 18.Jahrhunderts kein besonders bedeutender Ort der Stadt gewesen sein mögen, so waren sie doch stets ein Instrument, welches dem embellissement von Paris dienen sollte, welches weitgehend dem Wunsche des Königs unterlag. Bereits 1724 wurde die Straße bis zum Chaillothügel verlängert und in den 1770ern wurde ebenjener um ganze 5 Meter vergeblich abgetragen, um im Rahmen der künstlerischen Perfektion und des damit im Kontext stehenden Triumphes über die Natur das Ziel einer erhebungslosen Gerade zu erreichen.
All diese Transformationen hatten die Pariser mitbekommen; sie wussten demnach, dass dies die Achse des Königs und zugleich der Weg nach Versailles war. Genau hier möchte ich zum Aspekt der Entweihung zurückkommen: Der Marsch auf dem Boden der versinnbildlichten Fehler- und Makellosigkeit des Herrschers, gab der Straße eine völlig neue Bedeutung. Jene Eigenschaften der Vollkommenheit wie der Kontrolle waren hier zum ersten Mal in die Hände der Massen, des Volkes, vor allem aber in jene der aufsteigenden Republik gefallen. Die Unantastbarkeit, die unendliche Distanz nach Versailles war gefallen. Somit hatte das Königtum paradoxerweise ausgerechnet jene Achse errichtet, die dem Volk über einhundert Jahre später genau den Weg zu seiner Vernichtung offenbarte.
Obschon die verschiedensten Orte einer jeden Stadt einer ständigen Bedeutungsänderung unterworfen sind, so besitzt die Französische Revolution gerade das Charakteristikum, dass die großen Pariser Lokalitäten des Ancien Régime zu den großen Plätzen, Gebäuden oder eben Straßen der jungen Republik wurden, wobei die Umwidmungen oder Entweihungen in sehr offensichtlicher Art und Weise über jeweilige Autoritätsverschiebungen innerhalb des Machtkampfes Auskunft geben. So hatten die Marktweiber beispielsweise noch die Place Louis XV. in ihrem Rücken, als sie sich nach Versailles begaben.
Mir ist bewusst, dass ich mit den oben angeführten Gedanken einer gefährlichen Falle ausgeliefert habe, denn ich habe die Champs Élysées aus einer distanzierten und an einem historischen Maßstab orientierten Perspektive analysiert. Jedoch – und hier kommt mein Geständnis – wollte ich eigentlich in die Gedankenwelt einer Person blicken die 1789 in jener gigantischen Maße stand. Sie hätte aller Voraussicht nach nicht einmal annähernd jene Überlegungen gehabt, die ich heute, im Jahre 2008, auf meinem Schreibtisch, umgeben von Büchern, niederschrieb. Es scheint eher unwahrscheinlich, dass besagter Person die gesamte Königssemiotik, die den Champs Élysées zugrunde liegt, bewusst war, da sie ja durch die Kraft der Masse mitgerissen wurde. Gerade die Beteiligung an den Geschehnissen während des direkten Aufstandes gegen eine Obrigkeit, lässt des Öfteren politische oder soziale Ideologien in den Hintergrund rücken und führt zur Entwickelung einer gedanklichen Intention, die eine aggressive Eigendynamik entwickelt, da sie den Zielen der Masse unterworfen ist. So erscheint es viel wahrscheinlicher, dass das Endziel dieses Marsches (sofern man gleich zu Beginn der Bewegung überhaupt eine gezielte Absicht hatte) bestimmt nicht die Entweihung königlichen Bodens, sondern vielmehr die Erlangung der Kontrolle über die Herrschenden war, was durch Zurschaustellung der Macht des Volkes und in der Folge durch die zunehmende Schikanierung der famille royale bezweckt werden sollte. An diesem Tag wurden die Unantastbarkeit und der Personenkult Louis XVI., der als Stellvertreter sämtlicher königlicher Ungerechtigkeiten der letzten Jahrhunderte herhalten musste, zerstört. Ziel waren also vielmehr die Aufsuchung, sprich das Eindringen in den privaten Bereich des Monarchen, und die Bloßstellung des Selbigen, die schließlich zur Entkörperung und somit zur Möglichkeit der Enthauptung des Sündenbockes Louis XVI. auf der Place de la Concorde führte.
Insofern muss man (wenngleich die Alphabetisierung im Aufschwung begriffen war und die revolutionären Traktate somit einer größeren Schicht zugänglich waren) ganz klar zwischen den Gedanken und Empfindungen der großen Denker der Bewegung und den Überlegungen, Vorstellungen und Intentionen des Einzelnen in der Masse unterscheiden.
Genau hier liegt jedoch das Problem: Wie viele der Partizipanten, die für die Umstrukturierung der Machtverhältnisse mit ihrem eigenen Leib kämpften, schrieben ihre Gefühle und Impressionen auf, welche durch jene Örtlichkeit an diesem oder einem beliebigen nachfolgenden oder vorhergegangenen Tag geweckt oder geformt wurden? Wie kann ich als Mensch des 21.Jahrhunderts versuchen, die kollektiv- generelle Empfindung jener Masse zu verstehen, wenn das Gros der überlieferten Schriften, die darüber informieren von Personen verfasst wurden, die gar nicht direkt am Geschehen waren, die dieses also aus einer deutlichen Distanz, sei sie örtlich oder zeitlich, miterlebt haben. Es wäre eine Anmaßung meinerseits, zu glauben, ich hätte die Gedanken jener Menschen entziffert und verstanden; meine Überlegungen kommen höchstens einer Erahnung gleich, die sich an modernen Volkserhebungen orientiert.
Im 19.Jahrhundert werden die Zeitzeugenberichte, die die Champs Élysées betreffen, nicht zuletzt aufgrund der Zunahme der Besucherströme, die sich hierher seit der Errichtung des Triumphbogens und der generellen Kommerzialisierung der Prachtstraße nach englischem Vorbild immer öfter hinbegeben, häufiger. In viel höherem Maße als auf dem Cours la Reine wird hier das Spiel der Präsentation und Observation der Flaneure zelebriert. Die Champs Élysées sind zur Bühne des erstarkten Bürgertums, einem Produkt der Revolution, geworden. Dies ist die Pariser Lokalität, die später die reine Welt der Belle Époque zur Schau stellen sollte, welche wiederum die Bohème inspirierte, die bekanntlich ein ganz anderes Viertel zu ihrem Zentrum machte. Es ist dies die Weiterführung eines alten Pariser Konfliktes mit neuen Akteuren: Auf der einen Seite steht nun das kapitalistische Bürgertum und ein, spätestens seit Haussmann, luxuriöses Paris und auf der anderen Seite haben wir das künstlerisch- intellektuelle Milieu, dessen Ideen nicht zuletzt durch das Elend weiter Teile der Bevölkerung im Rahmen der zunehmenden Industrialisierung geprägt werden.
Das Paris des 19.Jahrhundert ist also – zumindest aus heutiger Sicht – ein Paris der Idyllen und der Ideale. Inwieweit dies auch damals so empfunden wurde, sei zunächst dahingestellt, aber gerade durch den hohen Stellenwert der Kunst mussten die Zeitgenossen doch auf die eine oder andere Weise das Gefühl gehabt haben, in einer träumerischen Welt zu leben. Den Parisern des 19.Jahrhunderts war also sicherlich bewusst, dass die Luxusviertel im Westen der Stadt in direktem (ideellen, denn auch manche vermeintlich kritische Intellektuelle verirrten sich gelegentlich in die schicken Gaststätten auf der Prunkachse) Gegensatz zum Montmartre standen. Diese Spaltung der ideologischen Gesinnung innerhalb der Bevölkerung kommt kaum vergleichbar im Akt des Begräbnisses Victor Hugos zum Ausdruck, dessen Leichnam paradoxerweise für kurze Zeit unter dem Bogen des Arc de Triomphe aufbewahrt wurde, ergo einem Ort der eigentlich an das Kaiserreich Napoléons erinnerte, um ausschließlich zum Pantheon geführt zu werden.
Durch die Bedeutungsverschiebung der Straße im Zuge der kapitalistischen Schaufensterkultur sind die Champs Élysées wie das gesamte Ensemble der Königsachse zu einem semiotischen Feld der politischen Rechten geworden. Seit Napoléon, der als Erster und wie kein anderer das Potential der Achse zur Inszenierung von Massenspektakeln erkannte, welches er durch den Triumphbogen, an der Idee der Verkörperung eines neuen römischen Reiches orientiert, noch zusätzlich architektonisch akzentuierte, erhielt die Prachtstraße zudem eine zusätzliche militärische Prägung, welche durch die alljährliche Militärparade noch heute zum Ausdruck kommt.
Die politische Aussagekraft der verschiedensten Orte der Stadt scheint den Parisern des 20.Jahrhunderts durchaus bewusst gewesen zu sein, denn ohne viel Überlegung wurde der Wahlsieg Mitterands auf der Place de la Bastille gefeiert. Auf Arte lauschte ich letztens dem Interview eines Zeitzeugen der Wahl 1981, der da meinte: „Hätte Giscard gewonnen, dann würden wir jetzt die Champs- Élysées unsicher machen.“ Dies wurde dann mit dem Wahlsieg Chiracs nachgeholt. Paris ist in seiner gesamten Erscheinung also ein gigantisches Stückwerk politischer Semiotik beziehungsweise Symbolik, die gesamte Stadt unterliegt also einer mehr oder weniger offensichtlichen ideologisch-geographischen Gliederung. Wenn dies den Bewohnern des 20.Jahrhunderts bewusst war, so mussten auch die Menschen früherer Zeiten die Einteilung von Paris in politisch- definierte Lokalitäten wahrgenommen haben.
Mittels der zunehmenden Quellenüberlieferung während des 19.Jahrhunderts, die nicht zuletzt auf den florierenden Massentourismus, der durch die folgenden Weltausstellungen noch forciert wurde, zurückzuführen ist, kann man womöglich besser erkennen, wie die Zeitgenossen ihr Paris wahrgenommen haben – ein, relativ zu den vorhergehenden Jahrhunderten gesehen, wesentlicher Vorteil.
Schon 1790 schrieb der russische Schriftsteller Karamsin: „Man gelangt über eine große, weiche Wiese in die Champs-Élysées, die ihren attraktiven Namen nicht grundlos tragen – ein kleiner Wald, wie von Oreaden selbst angelegt […]“ Hier wird schon die Option einer deutlichen Differenz zwischen der Wahrnehmung eines dauerhaften Bewohners der Weltstadt und eines Besuchers beziehungsweise eines vorübergehend in Paris wohnenden Menschen offensichtlich. Der Tourist, oder eben der Fremde, vermag den bereisten Ort eher mit einer romantischen Idylle zu assoziieren und betrachtet die Stadt zudem vielmehr als ein zusammenhängendes Konstrukt, als der Einheimische, dem Paris wie ein gigantisches Schachbrett der Semiotik, vor allem aber wie ein Gefüge mehrerer Einzellokalitäten erscheinen wird oder eben in der Vergangenheit erschien.
Um das Jahr 1820 beschreibt Balzac, dessen Belletristik immer wieder eine interessante Quelle darstellt, wählte er doch die verschiedensten Pariser Orte als Schauplätze seiner Geschichten, die Champs-Élysées bereits als eine Straße des Luxus, übersät von einer Unzahl an Flaneuren und Kutschen, die in Richtung des noch unvollendeten Arc de Triomphe fahren.
Dieser Aufwertung der Avenue steht aber beispielsweise die Missgunst eines Ludwig Richters, dem die großen Spektakel entlang der gesamten Achse nur zuwider waren: „Es gab hier bei der französischen Lebhaftigkeit und Lustigkeit die wunderlichsten Szenen. Schade war es freilich um den Wein, von dem mindestens zwei Drittel verloren ging. […] Schön war das nun eben nicht anzusehen, aber es machte dem Volke großen Spaß, und diese tolle Lustigkeit ergötzte schließlich auch den Zuschauer. Auf den großen Wiesenplätzen, zur Seite des Weges, waren Tanzplätze, Karussells und sehr hohe Masten, oben mit seidenen Tüchern behangen, aufgestellt“. Es wäre zu hinterfragen, ob Richter die politische Intention des Festes (nämlich die Taufe des Herzogs von Bordeaux), welches die Stabilisierung der bourbonischen Restauration zum Zweck hatte, bewusst war. Die im Hintergrund versteckte Idee divergiert meist mit der direkten Wahrnehmung des aktiv Beteiligten, der seinen emotionalen Impressionen unterliegt.
Man könnte diese Liste der Zeitzeugen noch länger weiterführen, würde zu Proust und womöglich zu einem weiteren interessanten Zeitdokument, dem Baedeker-Reiseführer kommen, der von 1876 bis zur letzten Ausgabe 1931 ein recht widersprüchliches Bild der Prunkstraße wiedergibt – von einer gefährlichen Straße, die vor allem nachts von diversen Dieben heimgesucht wird und die einem einzigen großen Trödelmarkt gleicht, hin zu einer Straße der modernen Fortbewegungsmittel um 1900, endet die Beschreibung 1931 mit einer Betonung des kommerziellen Faktors und der Überflutung durch das Automobil.
Schließlich sollten die Champs-Élysées mittels eines neuen Trends dem Besucher, sei er einheimisch oder nicht, nochmals eine neue Möglichkeit der Interpretation und des Empfindens offerieren: Film und Kino überschwemmten ganz Paris, speziell aber die Champs-Élysées, die in nahezu jedem zweiten französischen Film als Kulisse dienten.
Von Le Nôtres Verlängerung gen Westen bis hin zu Belmondos Spaziergang über die Avenue in A bout de souffle durchlebten die Champs-Élysées einer gigantische Transformation. Jede Epoche sieht ein anderes Paris, sieht eine andere Champs-Élysées.
Ich habe in diesem Blogeintrag versucht, die Wahrnehmung und Aufnahme einer semiotischen Bedeutungsverschiebung eines bestimmten Ortes zu analysieren und zu verstehen. Die große Problematik, die sich dabei ergab, war jene, festzustellen, wer denn nun das Recht hat, stellvertretend für viele andere Zeitzeugen über eine Lokalität und ein damit in Relation stehendes Ereignis zu berichten. Ich konnte mich also nur in einem stark begrenzten Rahmen bewegen. Dabei muss wohl immer ein Kompromiss zwischen Zeitzeugenberichten und der Eigeninterpretation eines historischen Geschehnisses gefunden werden.
Letztendlich würde ich mich freuen, wenn Sie mir das eine oder andere Buch (evtl. auch Faksimiles von Originalquellen) aus der Bibliothek des DHI empfehlen könnten, da mein Thema ja keine genaue Einschränkung hat. Bin über jeden Ratschlag dankbar!

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