Freitag, 4. April 2008

Hazan und die Problematik der Deutung von Zeichen – Paris als semiotischer Komplex

Wenn man Eric Hazan in einen Erzähltypus einordnen müsste, so würde dieser weder dem Reiseleiter, noch dem Wissenschaftler entsprechen. Hazan nimmt in seinem Buch L’invention de Paris ganz und gar die Gestalt eines Erzählers an – insofern muss ich auch meine Meinung aus der Exkursionssitzung revidieren: Es gibt eine, wenn auch stark kaschierte und nur schwer auszumachende Differenz zwischen der Vortragsweise eines Reiseleiters und jener eines Erzählers: Ersterer erzählt die Geschichte eines zeitlichen oder räumlichen Objektes oder eben eines menschlichen Subjektes, während der Zweite Geschichten wiedergibt, die die Vergangenheit wiederbeleben, sie spürbar werden lassen. Insofern besitzt der Erzähler die Macht, die im Grunde nur schwer zu überbrückende Distanz eines gegenwärtigen Zuhörers und des vergangenen und auf den ersten Blick nahezu unzugänglichen Erzählinhaltes zu minimieren oder gar aufzuheben.
Ich bin erst kürzlich während eines nachmittäglichen Stadtspaziergangs durch Wien auf ein sehr nettes Zitat aufmerksam geworden, welches am Schaufenster einer Bücherei in der Lerchenfelderstraße angebracht war: „Der Autor schreibt nur das halbe Buch, die andere Hälfte fügt der Leser hinzu.“ Genau dies ist, so denke ich, die Anleitung, welcher Hazan folgt. Indem er nach wie vor lebendige komplexe Orte bis in ihre kleinsten Zeichen zerlegt (nahezu kennzeichnend machte der Franzose ja als Chirurg Karriere), offenbart er dem Leser die geheime Semiotik jener chiffrierten Komplexe. Schließlich nimmt er den Konsumenten der Lektüre gerade durch diese Vorgangsweise mit auf eine Reise durch verschiedene Zeitschichten eines Zeichenkomplexes, auf der man zusätzlich großen Persönlichkeiten der französischen Geschichte begegnen darf, die eben jene Örtlichkeiten mit gestalteten.
So gelingt es ihm beispielsweise tatsächlich, eine Renaissance du Carrousel herbeizuführen, die die Impression hinterlässt, als wäre die Ieoh Ming Pei- Pyramide nur ein Traum, eine moderne Illusion. Es ist gerade dies die hohe Kunst, ein gegenwärtiges Zeichengebäude im doppelten Sinne zu überschauen. Dies bedeutet einerseits, es in seiner Gesamtheit zu erfassen und somit seinen Charakter, seine ihm spezifische Eigenschaft so weit wie möglich offen zu legen und andererseits, selbige Konstruktion von Zeichen im wahrsten Sinne des Wortes zu über-schauen. Für einen kurzen Moment vergessen, was man hier und heute sieht und mit welchem individuellen Filter man ein Objekt betrachtet. Dies inkludiert selbstverständlich die Reise in die Vergangenheit; im Falle des Carrousel die Wiedererrichtung dreier Querstraßen über das heutige Gelände der Pyramide, die geistig- wissenschaftliche Wiederbelegung jener Rues mit Menschen und deren Lebensformen, sowie beispielsweise die Notwendigkeit einer völlig anderen, zeitgenössischen Deutungsweise des Arc de Triomphe du Carrousel (!), der heute tatsächlich eher orientierungslos in der Übergangszone zwischen dem Museum und den Tuileries herumsteht.
Insofern sind im Laufe des chirurgischen Eingriffes in die Zeitschichten drei große Schnitte von Nöten, die wiederum leicht teilbare Einzelstücke ergeben: Erkenntnis des gegenwärtigen Semiotikkomplexes, Erkenntnis des Kontextes zwischen semiotischer Gegenwart, sowie der Vergangenheit und letztendlich die Erkenntnis scheinbar verloren gegangener Zeichen (die sich dem Auge oft erst bei genauester Observation offenbaren). Man könnte diesen Prozess auch als Zusammenspiel chronologisch definierter Zeichen deuten.
In dieses Konzept der Analyse fließen nun jedoch zwei Problemfelder ein, die die Suche nach semiotischer Entschlüsselung aber umso spannender werden lassen: Die Subjektivität des Betrachters, die die Kommunikation zwischen dem die Signale überliefernden Objekt und dem Betrachter wie ein dunkler Schatten überzieht und – ein fast noch kritischerer Aspekt – die Unendlichkeit der Deutungsweisen an sich.
So setzt auch Hazan einen offensichtlichen Schwerpunkt auf die von Menschen geprägte Komponente seiner Präsentationsobjekte, woraus sich eben seine spezifische Art und Weise der Deutung der komplexen Orte ergibt, die jedoch nur eine unter vielen Optionen darstellt. Unter diesem Blickwinkel kann auch Ihr eigener Europaparcours durch Wien betrachtet werden. Bei der Schaffung der einzelnen Europaattribute, Allegorien und Erinnerungsstätten im Laufe der Zeit, hatte vermutlich keiner der Verantwortlichen je daran gedacht, eine mit dem Thema Europa gekennzeichnete Schneise quer durch Wien zu legen. Dennoch entdeckt ein Geschichtsprofessor des 21.Jahrhunderts diesen unbeabsichtigt zusammenhängenden Weg, der nahezu danach schrie, bemerkt zu werden. Doch gerade diese Ihre Vorgangsweise gab mir neues Material zum Grübeln, da mir klar wurde, dass gerade die Ergründung eben jenes Parcours bereits einen gewissen Filter, nämlich Ihren individuellen, voraussetzte. Wäre man anders an die Thematik herangetreten, so wäre die semiotische Verständigung zwischen dem komplexen Ort und dem Betrachter mit Sicherheit völlig anders verlaufen und hätte folglich zu gänzlich anderen Ergebnissen geführt.
Demzufolge muss auch die Semiotik der Stadt Paris in ihrer Gesamtheit verstanden werden. Paris an sich ist bereits ein Zeichen. Es erscheint mir passend, hier ein Gleichnis auf der Basis eines Moleküls anzuführen. Paris ist eben ein solches Molekül, das wiederum in einzelne Atome – oder, wie Paris, in Quartiers - gegliedert werden kann. Diese Quartiers bestehen, genau wie die Atome aus Elektronen, Protonen und Neutronen, aus einzelnen (komplexen) Orten kleinerer Einheit, die in Quantität und Qualität variabel sind. Allerdings wäre ein Atom völlig leblos, gäbe es nicht Kräfte, die es zwingen, sich zu transformieren. Ebenso benötigt Paris die Menschen, oder eben die Natur im engeren Sinne, die es bis in die Gegenwart formen, es gestalten und letztendlich bestimmen.
Ebenso gut könnte man Paris in andere und an Semiotik ebenso reiche Parzellen segmentieren. Hazan erwähnt – wenngleich er sich im Folgenden doch lieber der Gliederung in Quartiers hingibt – die Günstigkeit einer Geschichtsschreibung jener Stadt, die sich an der Errichtung und Niederreißung der Stadtmauern orientiert. So prägen die Zeichen der ehemaligen Wehranlagen von 1190 bis 1845 noch heute die städtische Struktur und waren mitbestimmend für die Entwicklung und das Wachstum von Paris. Moderne Stadtpläne lassen erkennen, dass Paris, wie die Wellen eines ins Wasser geworfenen Steines, in konzentrischen Kreisen wuchs – wenngleich das Rive gauche seinem rechten Nachbarn immer etwas hinterherhinkte. Genauso könnte man die Grande Ville entlang ihrer nahezu monströsen Achsen – allen voran jene, die sich vom Louvre hin zur heutigen Défense erstreckt - unterteilen. Wie auch immer man Paris nun gliedern mag, um es detaillierter analysieren zu können, so wird voraussichtlich kein Weg der vollkommene sein.

Im Folgenden möchte ich noch mögliche Themenkreise, die mich im Rahmen dieses Forschungsseminars interessieren würden, auflisten:
• Das Marais, die Île de la Cité oder Montmartre unter dem Gesichtspunkt des Quartiers als einem komplexen Ort.
• Die großen Kaufhäuser und die beginnende Geschäftskultur der Boulevards als Zeichen einer Transformation der Grenzen von Luxus in der Gesellschaft.
• Die Gotik in Paris als neue semiotische Sprache der französischen Könige (St.Denis, Sainte Chapelle etc.)
• Der Louvre und seine Umgebung als Produkt verschiedener Zeitschichten.
• Die Werdung der Stadt Paris unter dem Blickwinkel eines gesamtsemiotischen Konstruktes – Strukturen und Zeichen einer Weltstadt.

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